Führung als Teamaufgabe: Vier narrative Wege zu Shared Leadership

von Michael Müller auf LinkedIn

Viele Führungskräfte in der heutigen Zeit stöhnen über Überlastung und 16-Stunden-Tage, weil „man“ ( = die Organisation und ihre verborgenen Regeln) implizit oder explizit erwartet, dass diese einem vermutlich nie erreichbaren Zielbild hinterher hecheln. Sehr viel Last kann von den Schultern dieser Führungskräfte genommen werden, wenn man „Führung“ oder „Leadership“ nicht als etwas versteht, was ein Einzelner oder eine Einzelne ausführen soll, sondern als Teamaufgabe. Solche Konzepte werden schon seit zwei Jahrzehnten unter der Bezeichnung „Shared Leadership“ diskutiert.

Das bisherige Führungsverständnis

Wenn zurzeit über Führung oder „Leadership“ gesprochen wird, kursieren vor allem zwei Groß-Konzepte: Einerseits das der charismatischen Führungsfigur, die Mitarbeiter begeistert und inspiriert und sie mit emotionalen Reden und Geschichten motivieren kann. Andererseits das Konzept der agilen, weitgehend hierarchiefreien Organisation, in der Führung nur noch in projektspezifischen Spurenelementen vorkommt. Es wird gesehen als ein „post-heroisches“ Management, das keine Verwendung für die heldenhaften Charismatiker mehr zu haben scheint.

Fakt ist, dass es in den meisten Unternehmen Hierarchien gibt – auch in solchen, die mit Konzepten wie Agilität und New Work experimentieren: Die traditionelle Hierarchie liegt dann eine Ebene über dem agilen Team, mit der Gefahr, wie der Organisationsforscher Stefan Kühl in der Süddeutschen Zeitung schrieb, dass das agile Team keine Entscheidungen trifft, sondern sie nach oben delegiert. Diese traditionellen Hierarchien sind in der Regel mit einer einzelnen Führungskraft besetzt, die die Verantwortung für das Team, die Abteilung oder den Geschäftsbereich zu schultern hat.

Sieht man sich die – nicht-wissenschaftliche – Ratgeberliteratur zum Thema Führung bzw. Leadership an, findet man in einer Zeit, in der in den Diskursen Agilität und New Work offenbare Megetrends sind, überraschend viele Bücher, die der traditionellen Führungskraft vermitteln, wie sie Mitarbeiter begeistern, motivieren und eine „charismatische“ Führungspersönlichkeit werden kann. Das Verlangen dahinter ist natürlich sehr verständlich und die meisten dieser Bücher verstehen den Prozess der Leadership-Entwicklung als einen der Persönlichkeitsentwicklung, der ohne Authentizität nicht funktionieren kann. Doch gerade damit wird Führungskräften sehr viel aufgebürdet: neben fachlicher Kompetenz sollen sie ganz besondere Persönlichkeiten sein, die sich selbst kennen, Empathie für Mitarbeiter entwickeln, aber auch Mut und Standfestigkeit haben und in Krisen ruhig bleiben können. Natürlich gibt es manche Führungskräfte, die all diese Eigenschaften haben, aber die meisten rennen einem Idealbild hinterher, gegenüber dem sie sich immer defizient fühlen. Das ist bei Idealbildern fatalerweise meist der Fall. Auch wer perfekter Vater, perfekte Mutter, perfekter Partner oder perfekter Freund sein will, wird meist gegenüber diesem Idealbild verlieren.

Fünf zentrale Führungsaufgaben

In Anlehnung an Reinhard K. Sprengers Buch „Radikal führen“ (2012) können fünf zentrale Aufgaben von Führung identifiziert werden:

  • Zusammenarbeit organisieren: Wie arbeiten die Mitglieder im Sinne der gemeinsamen Aufgabe so zusammen, dass sie diese erfüllen können.
  • Transaktionskosten senken: Sicherstellen, dass die Arbeit in der Organisation so läuft, dass die Ziele möglichst effizient und ohne große Reibungsverluste erreicht werden.
  • Konflikteentscheiden: Sowohl mit internen Konflikten zwischen Mitarbeitern oder Teilen der Organisation als auch mit Entscheidungskonflikten bezüglich Produkten und Angeboten umgehen können.
  • Zukunftsfähigkeit sichern: Eine Vorstellung von der Zukunft der Organisation bzw. des Teams zu gewinnen und Entscheidungen treffen, die einen Weg in die Zukunft vorbereiten.
  • Mitarbeiter führen: Mitarbeiter gewinnen, entwickeln und an die Organisation binden.

Natürlich steckt hinter diesen fünf Führungsaufgaben noch viel mehr, als eine Kurzzusammenfassung wiedergeben kann; wer sich näher dafür interessiert, dem sei das sehr spannende Buch von Sprenger ans Herz gelegt. Wie könnte es nun gehen, diese Führungsaufgaben nicht einer einzelnen Führungskraft auf die Schultern zu legen, sondern sie konsequent als Teamaufgabe zu verstehen – als Aufgabe, die im Team verankert ist und von zumindest Teilen des Teams gemeinsam verantwortet wird?

Zwei kurze Bemerkungen vorab: Teams oder Abteilungen können diese Wege auch innerhalb traditioneller hierarchischer Unternehmen beschreiten; nach oben und außen ist in diesem Fall dann eben immer noch die „eigentliche“ Führungskraft zuständig. Und: Natürlich müssen auch hier Verantwortlichkeiten definiert werden. Nur zu sagen, dass jetzt alle zusammen verantwortlich sind, funktioniert bei uns Menschen nicht langfristig. Doch die Verantwortlichkeiten können in einem Team mit Shared Leadership eher die eines Moderators als einer „Macherin“ sein – etwa die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass an der Zukunftsgeschichte der Abteilung weiter gearbeitet wird.

Warum narrative Wege? Regeln vs. Narrative

Man kann nun natürlich neue Strukturen, Aufgaben, Zuständigkeiten etc. einfach definieren bzw. als Regeln formulieren – etwa indem die Führungsaufgaben verschiedenen Teammitgliedern zugewiesen werden und überprüft wird, ob sie ausgeführt werden. Das ist sehr aufwendig – eine Erfahrung ist, dass Regeln immer mehr ins Kraut schießen, wenn man einmal damit angefangen hat. Es wird immer eine Ausnahme und einen Spezialfall geben, der reguliert werden muss. Eine andere Erfahrung lehrt, dass Menschen sich, nach der Aufstellung von Regeln, zunehmend nach diesen Regeln richten – das kann problematisch werden, weil nicht mehr „nach dem Geist“, sondern nur noch „nach dem Buchstaben des Gesetzes“ gehandelt wird.

Bilden dagegen Narrative bzw. Geschichten den Rahmen für eine Team-Führung, wird ein Sinn- und Identitätsrahmen gespannt, in dem sich die Arbeit eines Teams und damit auch die Führungsfunktionen entfalten können. Dieser narrative Rahmen hat den Vorteil, dass anders als bei einem Regelwerk nicht jeder Einzelfall, jede potenzielle Situation abgedeckt werden muss, sondern den Teammitgliedern ein grober Orientierungsrahmen geboten wird, in dem noch genügend Platz für eigene, situative und spontane, den Herausforderungen angemessene, Entscheidungen bleibt.

Vier narrative Wege zu Shared Leadership

Erster Weg: Ein gemeinsames Sinn-Narrativ entwickeln

Damit Shared Leadership funktionieren kann, ist die Entwicklung eines gemeinsamen Sinn-Narrativs des Teams, der Abteilung oder der Organisationseinheit eine grundlegende Aufgabe. Ein solches Narrativ beantwortet die Fragen danach, „wer wir sind“, „was wir tun“, „wie wir es tun“ und „wohin wir uns in Zukunft entwickeln wollen“. Es ist die formulierte Core Story des Teams. Es gibt ein oft zitiertes, schon etwas abgegriffenes angebliches Zitat von Antoine de Saint-Exupéry, das dieser zwar nie gesagt hat, das aber trotzdem schön ist: „Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Das Sinn-Narrativ für dieses Team wäre etwa die Geschichte, „wie uns die Sehnsucht nach dem Meer ergriffen hat, welche Schritte wir dann ergriffen haben, um diese Sehnsucht zu stillen, und wie wir jetzt das Schiff bauen, das uns dazu verhelfen kann“. Ein solches Sinn-Narrativ gibt dem Handeln aller Teammitglieder einen Sinnrahmen und ordnet ihm einen Wert zu. Soll dieses Sinn-Narrativ allgemein akzeptiert sein, kann es natürlich nicht top-down verordnet werden, sondern nur gemeinsam (von allen oder von Vertretern bei sehr großen Teams) entwickelt werden. Und: Es reicht nicht, ein solches Narrativ ein- für allemal festzulegen: Es muss, um sich immer wieder an veränderte Rahmenbedingungen anpassen zu können, ständig weiterentwickelt werden. Das kann eine der Führungsaufgaben sein, für das ein Teammitglied verantwortlich ist: Die ständige Weiterentwicklung immer wieder anzustoßen und zu moderieren.

Zweiter Weg: Über Geschichten Erfahrungen und Wissen austauschen (Storylistening)

Um die Arbeit im Team möglichst effizient und ohne Reibungsverluste zu organisieren („Transaktionskosten senken“), ist das ständige Gewinnen von implizitem Erfahrungswissen nötig. Dies geschieht am besten durch den Austausch von Erfahrungsgeschichten zu Projekten, Ereignissen und Erfahrungen der Teammitglieder. Dabei ist wichtig, den Wissensaustausch zu verstetigen, also regelmäßig Termine einzurichten, in denen das gesamte Team oder Teile davon ihre Erfahrungsgeschichten austauschen können. Diese Erzählrunden sind vor allem Storylistening-Termine: Natürlich erzählt immer ein Teammitglied; wichtig ist aber vor allem, dass die anderen tatsächlich zuhören. Nur so können sie Erfahrungswissen aus den Erzählungen ziehen. Wissen, das dem Erzähler oder der Erzählerin oft selbst gar nicht bewusst ist. Die Verantwortung für die Durchführung dieser Erzählrunden ist wiederum eine Führungsaufgabe, die ein Teammitglied übernehmen kann.

Dritter Weg: Entwicklungen in Geschichten gießen (Storytelling)

Neben dem gemeinsam entwickelten Sinn-Narrativ ist es in einem lebendigen Team wichtig, Geschichten über gemeinsame Erfolge bewusst nach innen und außen zu erzählen. Diese Geschichten binden einerseits die Mitarbeiter an das Team und helfen zudem, eingesetzt im Employer Branding, zur Gewinnung neuer Mitarbeiter. Natürlich müssen auch diese Geschichten – die etwa in Social Media, auf Webseiten oder sogar in kleinen Filmen erzählt werden können – auf authentisch Erlebtem beruhen; gekünstelt-übersteigerte Geschichten können die angestrebte Wirkung nicht entfalten.

Vierter Weg: Den Teammitgliedern archetypische Rollen für die Führung geben

Natürlich haben alle Teammitglieder Rollen schon allein aus ihren Aufgabenbeschreibungen heraus. Wichtig ist aber auch, dass ihnen klar ist, welche Rolle sie bezüglich des gemeinsamen Sinn-Narrativs und der damit verbundenen Zukunftsgeschichte haben. Eine Möglichkeit, diese Rollen zu definieren, ist die Nutzung von Archetypen: Rollen-Muster, die in vielen Mythen und Sagen vorkommen und die von C.G. Jung, einem der Väter der Psychoanalyse, als grundlegend für Selbsterleben und Verhalten erkannt wurden. So kann es im Team etwa einen „Mentor“ geben, der eine unterstützende, Kraft gebende Rolle einnimmt, einen „Krieger“, der nach vorne drängt und das Team mitreißt, einen „Hirten“, der sich vor allem um den Zusammenhalt der Gruppe und die sozialen Beziehungen kümmert, und so weiter. Vielen Teams wird die Arbeit mit den Archetypen zu Beginn vielleicht ein wenig befremdlich vorkommen – aber wenn man sich einmal darauf eingelassen hat, stellt man schnell fest, wie diese Rollenverteilung Führungsaufgaben an die Teammitglieder gibt. Wichtig ist natürlich, dass die Verteilung der Rollen in einem gemeinsamen Prozess entsteht und nicht von oben „aufgedrückt“ wird.

Dies sind nur einige narrative Wege, die helfen können, Führung als Teamaufgabe zu verstehen.

Mit narrativen Ansätzen von Führung beschäftigen wir uns auch in dem Seminar „Storytelling in Führung und Sinnkommunikation“ am 14. und 15. November 2019 im Rahmen der Fortbildung mit Hochschulzertifikat „Storytelling im Unternehmen“ in Stuttgart. Noch sind wenige Plätze für Kurzentschlossene frei. Hier geht es zur Anmeldung!

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