Vom Storytelling zum Narrativen Management

 In Storytelling

Begriff Storytelling

Unter dem Begriff „Storytelling“ hat das Erzählen in Unternehmen das Laufen gelernt – als „Narratives Management“ wird es jetzt erwachsen.

Storytelling ist in aller Munde: In den letzten zehn Jahren ist vor allem in der Unternehmenskommunikation das Bewusstsein stark gewachsen, dass man mit Geschichten Kunden, Geschäftspartner und Mitarbeiter sehr viel besser und effizienter erreichen kann als durch die Kommunikation reiner Fakten. Oft spricht man geradezu von einem Storytelling-Hype, der die Wirtschaft erfasst hat, und so mancher argwöhnt, ob „Storytelling“ dabei nicht zum reinen Buzzword geworden ist, das gerade hoch in Mode ist und in absehbarer Zeit wieder in der Versenkung verschwinden wird.

Unser Gehirn denkt in Geschichten

Doch es gibt überzeugende Gründe, dass die Bedeutung des Erzählens für Unternehmen eher noch wachsen wird. In den letzten beiden Jahrzehnten hat die Gehirnforschung eine ganze Reihe von Argumenten für den kommunikativen Wert von Geschichten geliefert. Das wichtigste davon: Unser Gehirn denkt in Geschichten. Hirnforscher sind sich weitgehend einig, dass wir neben einem Faktenwissen-Gedächtnis auch ein sogenanntes episodisches Gedächtnis haben, in dem wir unsere Erlebnisse und Erfahrungen speichern – und damit also die Geschichten, die wir erlebt haben: „Was mir letzten Montag in Hamburg zugestoßen ist“ ist ja nichts anderes als der Beginn einer Geschichte. Dieses episodische Gedächtnis ist auch von großer Bedeutung für unsere Identität, die sich zu einem großen Teil aus den im episodischen Gedächtnis gespeicherten Geschichten/Erlebnissen speist – und das gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Unternehmen: Unternehmensidentität oder „Corporate Identity“ ist nicht in erster Linie eine Mischung aus Werten und (grafischen) Zeichen, wie oft fälschlich angenommen wird, sondern sie bildet sich aus den Geschichten, die das Unternehmen über sich selbst erzählt (in Marketing und PR, aber auch in der Erzählungen von Mitarbeitern z.B. in Sozialen Netzwerken), den Geschichten, die andere (Kunden, Presse, Öffentlichkeit) über das Unternehmen erzählen, und den Geschichten, in die das Unternehmen gewissermaßen „hineingeboren“ ist (seine Historie, sein gesellschaftlicher Hintergrund).

Unternehmen als Geschichten denken

Im Storytelling steckt also sehr viel mehr Potenzial als nur die Verwendung von Erzählungen als emotionale und besonders effektive Kommunikationsmethode. Immer mehr Management-Theoretiker und Unternehmen erkennen dies und empfehlen die Anwendung von narrativen Formen, also Geschichten, im Wissensmanagement, in der Führung, in der Markenbildung oder im Change Management. Für alle diese unterschiedlichen Methoden wurde von den Storytelling-Experten Christine Erlach und Michael Müller der Begriff „Narratives Management“ geprägt.

Grundlage von Narrativem Management ist das Denken in Geschichten, eine „narrative Intelligenz“, die unterschiedliche Handlungsfelder von Führungskräften und Mitarbeitern als narrative Strukturen versteht. Mit dem Narrativen Management beginnt eine neue Dimension des Storytelling: Man beginnt zu verstehen, dass Unternehmen nicht zuletzt auch aus Geschichten gemacht sind.

Ein Beispiel: Geschichten im Veränderungsmanagement

Ein Unternehmen initiiert einen Prozess zur Veränderung der Unternehmenskultur. Doch die Mitarbeiter ziehen nicht mit, sie tun nur das Nötigste, und auch das sichtlich unwillig. Weder Motivations-Programme noch Sanktionen können diesen Unwillen beseitigen. Die verantwortlichen Führungskräfte sind ratlos. Um dem Verhalten der Mitarbeiter auf den Grund zu gehen, werden in narrativen Interviews die Erfahrungsgeschichten der Mitarbeiter gesammelt und ausgewertet. Dabei fallen zahlreiche Geschichten auf, die von Projekten handeln, die abgebrochen, deren Ergebnisse nicht umgesetzt wurden oder gleich sang- und klanglos in der Schublade verschwanden. Die Erkenntnis daraus war, dass sich den Mitarbeitern durch diese Erlebnisse eine verborgene Regel eingeprägt hatte, nach der Projekte im Unernehmen ohnehin nie zu Ende gebracht würden und es daher verschwendete Energie sei, sich für Projekte – und damit auch für das neue Veränderungsprojekt – zu engagieren. Aus den Geschichten der Mitarbeiter wurde ihr Verhalten verstehbar.

Durch Geschichten verborgene Regeln entdecken

Die durch Prägung gewonnene Einstellung der Mitarbeiter zu Prozessen und Projekten macht es unmöglich, ein Ziel, eine Veränderung zu erreichen. Jeder Change-Prozess, will er erfolgreich sein, muss also bei der Gegenwart ansetzen – und zwar nicht nur bei der Gegenwart des „offiziellen Unternehmens“, wie es in Organigrammen, Geschäftsberichten und Strategiepapieren beschrieben ist, sondern auch die Gegenwart des „Unternehmens im Kopf“ der Mitarbeiter: bei den Prägungen, Überzeugungen und Einstellungen, den verborgenen Regeln, über die normalerweise nie geredet wird, die jedoch mindestens ebenso wirkmächtig in der Organisation sind wie die offiziellen Spielregeln. Durch eine klassische Mitarbeiterbefragung kann man diese Regeln nicht herausfinden, da sie den Mitarbeitern nur teilweise bewusst sind. Man kann jedoch einen Blick in das „Unternehmen im Kopf“ werfen, wenn man die Mitarbeiter ihre Geschichten über das Leben und Arbeiten in der Organisation erzählen lässt. Auf der Basis dieser Geschichten kann man dann ein tragfähiges Verständnis der Gegenwart der Organisation gewinnen, das klar macht, „wie wir geworden sind, was wir heute sind“. Nur so kann man eine Zukunftsgeschichte erzählen, die nicht in der Luft hängt, sondern ihren Ausgangszustand kennt. Narratives Management nutzt hier also zweifach die Kraft von Geschichten: Erstens wird der Veränderungsprozess in die Zukunft hinein konsequent als narrative Struktur gedacht, und zweitens wird der Ausgangspunkt für das Veränderungsprojekt über die Vergangenheitsgeschichten der Mitarbeiter ergründet.

Das Unternehmen neu erzählen

 Die negative Prägung bezüglich Veränderungsprojekten wurde übrigens in dem oben geschilderten Fall dadurch gelöst, dass ein Teilprojekt sehr schnell zu Ende geführt und dadurch eine Gegengeschichte kreiert wurde: „Manchmal werden auch bei uns Projekte zu Ende geführt.“ Natürlich waren damit noch nicht alle Probleme gelöst, aber nach und nach begannen doch immer mehr Mitarbeiter, ein wenig an einen möglichen Erfolg des Projekts zu glauben. Das Beispiel zeigt auch, dass klassische „Motivationsmethoden“ in solchen Fällen nichts bringen; überhaupt ist es eine grundlegende Erfahrung des Narrativen Managements: Man muss Mitarbeiter nicht motivieren, man sollte einfach aufhören, sie zu demotivieren.

  • PROF. DR. MICHAEL MÜLLER

    Mit gleichermaßen theoretischem wie praktischem Know-how ist Michael Müller seit Jahren einer der führenden Experten für narrative Methoden im Managementbereich. Durch seine Expertise verhilft er Unternehmen und Workshop-Teilnehmern zur Entdeckung ihrer eigenen Unternehmensgeschichten und damit zur Optimierung von Veränderungsprozessen und ganzheitlich integrierter Kommunikation. Nach beruflichen Stationen bei Siemens und ProSieben entdeckte er schon in den 90er Jahren die Kraft des Erzählens für Unternehmen und entwickelte zahlreiche wirkungsvolle narrative Methoden. Michael Müller ist ausgebildeter systemischer Coach und Berater und leitet an der Hochschule der Medien das „Institut für Angewandte Narrationsforschung (IANA)“.

    www.muellerundkurfer.dewww.narrationsforschung.de

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