„Immersives Storytelling ist viel mehr als bloße VR-Anwendungen“ – Fragen an Sophie Burger

 In Narratives Management, Storytelling

„Immersives Storytelling ist viel mehr als bloße VR-Anwendungen“ – Fragen an Sophie Burger

Sophie Burger ist Expertin für immersive Erzählformate und betreibt die beiden Audiowalk-Plattformen Storydive und Ortspiel. Wir haben Sie zu immersivem Storytelling befragt.

Was ist immersives Storytelling?

Burger: Immersion bezeichnet die Fähigkeit, in eine Erzählwelt einzutauchen, sich in ihr zu vertiefen und sie für eine begrenzte Dauer als real wahrzunehmen. Immersives Storytelling wäre dementsprechend, wenn ich eine Geschichte so erzähle, dass Immersion möglich wird. Das Ziel dabei ist, dass mein Publikum voll und ganz in das Geschehen eintauchen kann und das Gefühl hat, selbst Teil davon zu sein.

Vor allem als englischsprachiger Begriff ist “immersive Storytelling” aber auch ein Buzzword, mit dem aktuell oft Erzählformate aus dem VR- und AR-Bereich beschrieben werden. Der Gedanke dahinter ist, dass es diese Technologien besser als andere Medien ermöglichen, in eine Geschichte einzutauchen, weil sie nicht nur unsere Vorstellung, sondern auch unseren Körper mit einer Erzählwelt interagieren lassen können.

Stimmen Sie dem zu?

Burger: Das Problem bei dieser Annahme ist, dass die Immersion allein auf technologischer Ebene gedacht wird. Immersives Storytelling entsteht demnach automatisch, wenn ich eine immersive Technologie verwende. Das ist natürlich nicht so: aus meiner Sicht sind VR- und AR-Anwendungen heute häufig sogar weniger immersiv als klassische Erzählformate wie Romane oder Filme. Das hat damit zu tun, dass es noch keine etablierten Erzählmittel gibt, die die Immersion auch auf Storyebene unterstützen.

VR wird beispielsweise oft als Erweiterung von Film in den dreidimensionalen Raum hinein gedacht, aber in einer Virtual Reality Umgebung funktionieren viele der im Film etablierten Erzählmittel wie Kameraeinstellung, Kamerabewegung oder Schnitt nicht mehr. Der Grund dafür ist, dass der virtuelle Raum vom realen, nicht vom filmischen Raum her gedacht wird. Die Rezipient*innen sind nicht mehr involvierte Beobachter*innen des Geschehens, sondern übernehmen selbst eine Rolle darin – meist sogar die Hauptrolle. Weil Rezipient*innen plötzlich keine*n Stellvertreter*in in Form einer Filmfigur oder eines Avatars haben, sondern sich selbst durch den Raum bewegen, muss neu definiert werden, wie sich Körper und Medium zueinander verhalten.

Virtual Reality erzählt also nicht per se immersiv?

Burger: Wenn ich mir von einer Architektin mittels VR-Anwendung zeigen lasse, wie mein geplantes Haus später aussehen wird, dann ermöglicht mir VR, den Raum virtuell zu erkunden und ihn dadurch auf einer anderen Ebene zu erfassen, als wenn ich (als Ungeübte*r) ein Modell vor mir habe. Das Gefühl, diesen Raum aus unterschiedlichen Perspektiven erkunden und dadurch informierte Entscheidungen treffen zu können, ist durchaus immersiv. Aber: hier gibt es weder eine Geschichte, noch den Anspruch, eine zu erzählen.

Tatsächlich stellt Virtual Reality Storyteller vor riesige Herausforderungen, die heute oft nur gelöst werden können, indem man die Möglichkeiten der Technologie künstlich reduziert. Nicht wenige VR-Anwendungen sind letzten Endes einfach 360° Videos, in denen sich Rezipient*innen nicht frei bewegen und auf die sie auch keinen Einfluss nehmen können.

Wie funktioniert immersives Storytelling?

Burger: Wenn ich eine Geschichte immersiv erzähle, dann möchte ich, dass mein Publikum voll und ganz in das Geschehen eintaucht und das Gefühl hat, selbst Teil davon zu sein. Dafür muss ich das Publikum und die Rezeptionssituation von Anfang an als Teil der Story mitdenken und entsprechende Angebote schaffen. Das funktioniert je nach Medium unterschiedlich, aber zwei wichtige Punkte sind, dass ich zum einen alle Sinne miteinbeziehe und zum anderen Interaktion mit der Geschichte oder dem Raum, in dem die Geschichte spielt, ermögliche.

Sie sind Mitgründerin von Storydive. Was macht Storydive genau?

Burger: Storydive ist eine Plattform für interaktive Audiowalks, also Hörspaziergänge, bei denen Wegentscheidungen den Fortgang der Geschichte beeinflussen. Wie man schon am Namen Storydive erkennt, steht für uns das Eintauchen in die Geschichte, sprich die Immersion, im Mittelpunkt. Sie können sich einen Audiowalk als Hörspiel für eine reale Umgebung vorstellen, in dem Sie selbst die Hauptrolle spielen und zum Beispiel in einem Kriminalfall ermitteln oder eine Spiegelwelt entdecken. Unser Ziel ist es, die alltägliche Umgebung unserer Hörer*innen durch immersives Storytelling in den Schauplatz eines Abenteuers zu verwandeln.

Wie ist die Idee dafür entstanden?

Ich beschäftige mich schon lange damit, wie verschiedene Medien, wie zum Beispiel Film oder Theater, Räume in Szene setzen, um damit etwas über das Innenleben der Figuren, über ihre Beziehungen zu anderen oder auch über ihre Entwicklung zu erzählen. Es reizt mich, diese Logik umzudrehen: statt künstlich einen Raum zu schaffen, der zu meiner Geschichte passt, schreibe ich jetzt Geschichten, die zu bestimmten Räumen passen. D.h. ich mache mich auf die Suche nach Räumen, die bestimmte Emotionen wecken und motiviere diese Emotionen dann vor Ort durch eine Geschichte. So bin ich 2009 zum Medium Audiowalk gekommen.

Die Idee zu einer Audiowalk-App hatten wir dann erstmals 2013. Zu diesem Zeitpunkt haben wir schon Audiowalks produziert und uns gewünscht, dass es eine Technologie gäbe, die Audio und Location automatisch, also ohne Nutzereingabe, matcht. Das heißt: sobald ich an einem Schauplatz ankomme, spielt ein Audiotrack ab. Eigentlich ganz einfach und nur ein Bruchteil unserer aktuellen Technologie, aber die Realität sah damals noch anders aus: Theater und Museen haben mp3-Player verliehen, bei denen Hörer*innen entweder einen perfekt getimten, aus einer einzigen Datei bestehenden Audiowalk hören und dabei genau im richtigen Tempo laufen, oder die einzelnen Tracks selbst abspielen mussten, meist mit dem mp3-Player in der einen Hand und in der anderen eine ausgedruckte Karte, in die die Punkte zusammen mit der entsprechenden Tracknummer eingezeichnet waren. Dann lag die Idee aber bis 2017 in der Schublade. Herausgeholt haben wir sie für das Internationale Filmfestival Rotterdam, wo wir eingeladen waren, unsere Ideen für die Zukunft des Kinos vorzustellen.

Zusammen mit meinem Kollegen Fabian Eck, der heute auch bei Storydive dabei ist, hatte ich zu dem Zeitpunkt verschiedene Projekte umgesetzt, um das Kino stärker in den öffentlichen Raum hinein zu öffnen. Wir haben Audiowalks zu dieser Zeit als eine Art “Verfilmlichung” der Wirklichkeit konzipiert, weil es bei den Hörer*innen das Gefühl erzeugt, selbst zur Hauptfigur in einem Film zu werden. Das war quasi unsere Antwort auf die Frage, wie Film immersiver werden könnte – nur, dass es plötzlich ein ganz anderes Medium war. Wir haben uns genau angeschaut, welche filmischen Erzählmittel sich auf das Medium Audiowalk übertragen lassen und mit welchen medienspezifischen Möglichkeiten das zusammentrifft. So hat dann die tatsächliche Arbeit an Storydive angefangen.

Welche Anwendungsgebiete und welches Potenzial sehen Sie für
immersives Storytelling?

Immersives Erzählen ermöglicht es Menschen, sich in andere hineinzuversetzen und kann deshalb für Themen sensibilisieren, zu denen Menschen sonst nur schwer Zugang finden. Aber auch jenseits von Bildung und Vermittlung ist immersives Storytelling ein tolles Tool, um Geschichten noch involvierender zu erzählen.
Es ist etwas ganz Besonderes, wenn ich eine Geschichte aus Sicht meiner Lieblingsfigur erleben oder sie aktiv auf ein Abenteuer begleiten kann. Beim Audiowalk verändert sich durch die Immersion außerdem auch die Wahrnehmung der Orte, an denen ich die Geschichte erlebe. Das macht alltägliche Orte wieder interessant und sorgt dafür, dass ich mich nach dem Hören stärker mit ihnen verbunden fühle.
Außerdem gehe ich davon aus, dass Virtual Reality erst in dem Moment wirklich erfolgreich werden kann, in dem es eigene immersive Erzählstrategien entwickelt hat. Tatsächlich könnten sich VR-Produzent*innen dabei viel beim Audiowalk abschauen, denn die Herausforderungen sind ähnlich und wir haben schon Antworten auf wichtige Fragen, wie beispielsweise: Wie navigiere ich in einer 3D-Umgebung, ohne dass die Navigation zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht und dadurch die Immersion zerstört? Wie lenke ich innerhalb dieser 3D-Welt die Aufmerksamkeit auf bestimmte Details, die dadurch erst ihre Funktion innerhalb der Geschichte erfüllen können? Wie nutze ich Embodiment als eigenständiges Erzählmittel? Was muss ich beachten, damit sich die räumliche Erfahrung und die Geschichte synchronisieren, egal wie sich die Nutzer*innen im Raum bewegen? Wie denke ich die Nutzer*innen von Anfang an als Teil der Erfahrung mit, anstatt einen Raum zu schaffen, in den ich sie wie Fremdkörper hineinversetze? Ich fände es durchaus spannend, mal ein VR-Projekt im Hinblick auf immersives Storytelling zu begleiten.

Was ist ein nennenswertes Beispiel für ein immersives Storytelling-Projekt, das Sie begleitet haben?

Ich arbeite aktuell an der Frage, ob es möglich ist, dieselbe Geschichte in verschiedenen Städten zu erzählen, also mit wechselnden Schauplätzen und Kontexten, ohne dass die Immersion darunter leidet. Dafür haben wir eine Story entwickelt, bei dem Hörer*innen in die Rolle eines Location Scouts schlüpfen und selbst die passenden Schauplätze für die Geschichte suchen und vorschlagen müssen. Dadurch konnten wir viel über die unterschiedlichen Aspekte von Immersion lernen.

Das Interview führten: Johanna Wurst und Joshua Balz

Zur Person:

Sophie Burger studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft in Frankfurt/Main und San Francisco. Ihre Magisterarbeit zur Verräumlichung zeitlicher Strukturen in Literatur und Theater bildet die Grundlage für ihre weitere Auseinandersetzung mit immersiven Erzählformaten. Sophie Burger ist geschäftsführende Gesellschafterin der SBAE GmbH mit den beiden Audiowalk-Plattformen Storydive und Ortspiel. Dort betreut sie Audiowalkproduktionen für Auftraggeber*innen aus dem Unternehmens- und Bildungsbereich von der Konzeption bis zur Veröffentlichung und gibt zudem regelmäßig Workshops und Webinare.

www.storydive.de

Neueste Beiträge
0

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen

Michael Müller_Narratives Management