„Alle, die autoritäre Politik machen, sind Geschichtenerzähler“ – Fragen an Prof. Dr. Michael Müller

Fragen an… Prof. Dr. Michael Müller – Welche Rolle spielen Narrative im aktuellen Kriegsgeschehen?

Feindbilder, bewusste Desinformation und der Informationskrieg im Internet. Alles getrieben durch ausgeklügeltes Storytelling. Mit Professor Dr. Michael Müller haben wir über die Rolle von Narrativen in Kriegsgeschehen gesprochen.

Welche Rolle spielen Narrative und Storytelling für Putin in der aktuellen Situation?

Müller: Für Putin spielen Narrative und Storytelling eine große Rolle. Zu Beginn des Krieges hat er den Angriff ja immer mit einem Narrativ aus der mittelalterlichen Geschichte begründet. Demnach sei die Ukraine kein eigenständiger Staat, sondern nur ein Teil von Russland. Dem zweiten Narrativ nach würde die Ukraine von drogensüchtigen Nazis beherrscht werden. Diese Narrative werden offenbar von vielen Russen geglaubt.

Müssen Kriegstreiber immer auch gute Geschichtenerzähler sein?

Müller: Ich denke alle, die autoritäre Politik machen, sind Geschichtenerzähler. Ob sie gute Geschichtenerzähler sind, ist eine andere Frage. Aber sie müssen Geschichten oder Narrative erzählen, an die viele Menschen gerne glauben wollen. Man hat es bei Trump gesehen, in Amerika mit der gestohlenen Wahl, und auch bei Putin. Offenbar wollen viele Russen daran glauben, dass Russland wieder eine große Nation werden soll.

Welche Rolle spielen Social Media und die heutigen Verbreitungsmöglichkeiten für Kriegsnarrative?

Müller: Social Media spielt eine sehr große Rolle. Früher wurden solche Narrative eher langsam und über die klassischen Medien verbreitet. Jetzt kann sie jeder verbreiten und sehr schnell auf ganz vielen verschiedenen Kanälen. Also sie verbreiten sich viel schneller und in sehr vielen abenteuerlichen Varianten auch.

Was müsste passieren, um Putins Narrativ zu brechen?

Müller: Normalerweise funktionieren reine Gegennarrative oder Argumente nicht. Aber was funktionieren könnte, ist, wenn man versucht rauszukriegen: Was sind eigentlich die Grundbedürfnisse, die zum Beispiel für das russische Volk dahinterstecken, dass sie Putins Narrative gerne glauben wollen? Und zu diesen Grundbedürfnissen, zum Beispiel mangelndes Selbstbewusstsein, kann man dann ein neues Narrativ erzählen.

Und was passiert, wenn man dahinterkommt, dass eine Geschichte bzw. ein Narrativ das man geglaubt hat, sich als falsch herausstellt?

Müller: Normalerweise ist man dann natürlich enttäuscht, weil man jemandem auf den Leim gegangen ist. Es kann natürlich auch sein, dass das so wichtig für einen ist, dieses Narrativ zu glauben, dass man trotz besseren Wissens oder wider besseren Wissens trotzdem an dieses Narrativ glaubt, also in einer Art kognitiven Dissonanz lebt. Also wie zum Beispiel diejenigen Amerikaner, die genau wissen, dass die Wahl nicht gestohlen war und trotzdem gerne dran glauben wollen.

Das Interview führten: Johanna Wurst und Joshua Balz

Das Interview als Video: https://youtu.be/9rPmIh9XcfQ

Zur Person:

Prof. Dr. Michael Müller studierte Literaturwissenschaft, Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität München. 1997 gründete er mit Partnern die Beratergruppe „System + Kommunikation“ und entwickelte Storytelling-Methoden auf Basis narrativer Ansätze für Unternehmen. Seit mittlerweile über 20 Jahren unterstützt und berät er als einer der führenden Storytelling-Experten im deutschsprachigen Raum Unternehmen, Organisationen und Institutionen in der Kommunikations- und Kulturentwicklung. Seit 2010 ist er zudem als Professor für Medienanalyse und Medienkonzeption an der Hochschule der Medien in Stuttgart tätig und leitet dort das „Institut für Angewandte Narrationsforschung (IANA)“.

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