Post-Corona-Ökonomie: Was soll uns gemeinsam gehören?

von Michael Müller auf LinkedIn

Ein Satz, den man zurzeit sehr häufig hört: Nach Corona wird nichts mehr so sein wie zuvor. Gleichgültig, ob er positiv oder negativ gemeint ist: Ich bin mir da nicht so sicher. Gut, es wird bestimmt mehr Homeoffice geben, und mehr Online-Meetings, das wird bleiben. Aber sonst? Wird man nicht in dem Wunsch, möglichst schnell wieder zur „Normalität“ zurückzukehren, den Status quo ante als Maß nehmen? Wird man beispielsweise in dem Drang, die Autoindustrie rasch wieder hochzufahren, es für zweitrangig erklären, welche Autos mit welchen CO2-Werten produziert werden – entsprechende Stimmen aus der Autolobby sind schon hörbar? Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass wenn nicht jetztKonzepte für das, was in einem positiven Sinne anders werden soll, erdacht, diskutiert und politisch durchgesetzt werden, werden wir mehr oder weniger automatisch zu einer vielleicht schlechteren Version des „alten Normal“ zurückkehren.

Was wollen wir als Allmende?

Die Corona-Krise zeigt, dass eine der wichtigsten Fragen die ist, was uns – als Gesellschaft – gemeinsam gehören soll. Welche Güter, Institutionen oder Dienstleistung sollen also nicht oder nicht vollständig in privater Hand bleiben, sondern Allmende sein. Der Begriff, der vom mittelhochdeutschen „al(ge)meinde“ herkommt, bezeichnete ursprünglich eine Gemeindeweide, also eine Wiese, die dem ganzen Dorf gehörte und auf die jeder seine Kühe treiben durfte. Natürlich ist eine solche Allmende nie konfliktfrei: Die Gemeinschaft musste aushandeln, wer wann wieviele Kühe auf die Weide treiben darf, damit für jeden etwas bleibt.

In den letzten Jahrzehnten war die Idee der Allmende nicht sehr beliebt im neoliberalen Wirtschaftsnarrativ, dem die Prämissen zugrunde liegen „Die unsichtbare Hand des Marktes kann alles am besten“ und „Privatisierung ist die Lösung für (nahezu) alles“. Auch wenn dies nicht immer und überall gleich radikal realisiert wurde, was es doch das beherrschende Basisnarrativ der (politischen) Ökonomie der letzten 30 Jahre.

Ich will jetzt in keine große Diskussion darüber eintreten, wie brauchbar diese Basisprämissen sind; Fakt ist, denke ich, dass ihre Realisierung in vielen Fällen zu gesellschaftlich unerwünschten Nebenwirkungen führt: im öffentlichen Verkehr werden profitable Strecken ausgebaut und Nebenstrecken stillgelegt, im Gesundheitswesen die Kapazitäten für teure Behandlungen aus- und die für die Grundversorgung rückgebaut, und in einer Krise, wie wir sie zur Zeit erleben, kosten 30-Cent-Mundschutzmasken plötzlich 2 Euro oder mehr. Ich würde all das systemisches Marktversagen nennen – es sind eben keineAusnahmen.

Ist der Markt immer und überall?

Wenn wir über die Zukunft unserer Gesellschaften nachdenken, sollte also eine der zentralen Fragen sein, welchen Platz wir dem Markt in ihnen zuweisen wollen. Irgendwer hat einmal geschrieben, in früheren Gemeinwesen sei der Markt ein fest umrissener Platz in der Stadt gewesen. Wir haben uns dagegen daran gewöhnt, dass der Markt überall ist, was zu einer allgemeinen Ökonomisierung unserer Gesellschaften geführt hat: Wir denken fast alle Beziehungen in der Metapher der Ökonomie: Wir sprechen von Beziehungsmärkten, Aufmerksamkeitsökonomie, und auch im Bildungsbereich werden die Beziehungen zwischen Lehrenden und Schülern häufig als die von Anbietern und Kunden konzeptionalisiert.

Nicht erst die Corona-Krise hat vor allem bezüglich des Gesundheitswesens gezeigt, dass es nicht immer sinnvoll ist, alles dem „freien Markt“ zu überlassen. Wir sollten als Gesellschaft intensiv darüber nachdenken, ob wir nicht die Grenzen des Marktes wie in den alten Städten wieder einschränken und uns damit endgültig vom neoliberalen Ökonomie-Narrativ verabschieden sollten – und uns entscheiden, welche Plätze und Orte in unserem Gemeinwesen Allmende sein sollen. (Nebenbemerkung: Ich plädiere natürlich nicht für eine Planwirtschaft; deren Nicht-Funktionieren haben die Groß-Experimente des 20. Jahrhunderts bewiesen).

Hier nur ein paar Beispiele, über die man nach meiner Meinung nachdenken sollte:

·     Gesundheitswesen: Zumindest die gesundheitliche Grundversorgung und die Vorsorge (z.B. vor Pandemien) sollten als Allmende angesehen werden. Dies würde auch bedeuten, dass die Total-Ökonomisierung der Entlohnungs- und Erstattungssysteme aufgegeben wird: die tayloristische Zerlegung ärztlicher Leistung, die „marktgemäße“ schlechte Bezahlung von Pflegekräften, die finanzielle Bevorzugung von Apparatemedizin, etc. Man darf auch fragen, ob es sinnvoll ist, Kliniken rein nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen zu führen. Natürlich sollte man gut haushalten, aber die wichtigen Entscheidungen sollten nicht Betriebswirte führen, sondern die, die von der Sache etwas verstehen. Die Betriebswirte können ja die Buchhaltung machen.

·     Öffentlicher Verkehr: Dass die „Privatisierung“ der deutschen Bahn keine so gute Idee war, hat sich weitgehend herumgesprochen; es hat schließlich auch Gründe, dass sie auf halbem Weg stecken geblieben ist. Aber die Übernahme des Gewinnmaximierungs-Narrativ hat dazu geführt, dass massenweise Nebenstrecken, die nicht profitabel waren, aufgegeben wurden. Gerade auch aus der Perspektive der Klimakrise sollte der öffentliche Verkehr als Allmende betrachtet werden. Wie wäre folgender Traum: Jeder Mensch in Deutschland sollte nach maximal 20 Minuten Fußweg einmal pro Stunde Anschluss an den öffentlichen Verkehr haben. Wenn man rein betriebswirtschaftlich denkt, wäre das natürlich ein Unding, aus gesellschaftlicher und ökologischer Perspektive jedoch äußerst wünschenswert.

·     Soziale Medien: Mittlerweile geschieht so viel an gesellschaftlicher Meinungsbildung, Diskursen und Information in sozialen Medien, dass sich die Frage stellt, ob man diese Form der gesellschaftlichen Kommunikation alleine privaten Anbietern überlassen sollte. Natürlich sollte es Facebook, Instagram, Twitter & Co. weiterhin geben, aber ergänzt um ein europäisches öffentlich-rechtliches soziales Netzwerk, das keine Gewinnmaximierungs-Absichten hat und deshalb auch keine Datensammlungs-Geschäftsmodelle entwickeln muss. Diese Idee ist übrigens schon vor fünf oder sechs Jahren in einem Masterseminar an der Hochschule der Medien Stuttgart, das ich gemeinsam mit meiner Kollegin Petra Grimm durchgeführt habe, entstanden: Die Studierenden kamen auf diese Idee, weil sie es als befreiend und sicherer fanden, nicht mehr das „Produkt von Facebook“ (Jaron Lanier) zu sein.

·     Basis-Infrastrukturen: Auch über Infrastrukturen, die entweder lebensnotwendig (Wasser, Strom) oder unabdingbar für die gesellschaftliche Teilhabe (Internet-Anschluss) sind, sollte man nachdenken. Wollen wir wirklich, dass Menschen, die in dünn besiedelten Gegenden wohnen, Internet-Verbindungen wie in den 90er Jahren haben, weil sich die Verlegung von Glasfaserkabeln für die privaten Anbieter nicht lohnt?

Wir brauchen neue Zukunfts-Narrative!

Das sind natürlich nur Beispiele, über die man diskutieren kann; aber diskutieren sollten wir über die Frage, was wir als Allmende haben wollen. Letztlich steckt dahinter auch die Frage, wie wir als Gesellschaft in Zukunft leben wollen. Wollen wir diese Zukunft ausschließlich „dem Markt“ überlassen, oder wollen wir sie mit eigenen Konzepten mitbestimmen?

Seit der Wende Ende der 80er Jahr haben die politischen Parteien der Mitte und der Linken sich weitgehend der Entwicklung inklusiver und die Menschen mitreißender Zukunftsnarrative verweigert. Zu überzeugend schien der weltweite Sieg des demokratisch-marktökonomischen Systems, als dass es lohnend erschien, darüber hinausgehender Zukunftsvisionen zu entwickeln, wie auch die Politologen Krastev und Holmes in ihrem Buch „Das Licht, das erlosch“ (Berlin 2019) beschrieben: Die Welt musste nur eingeladen werden, das vom Westen vorgelebte demokratisch-marktökonomischen Paradigma zu imitieren.

Doch Menschen brauchen, um Sinn zu empfinden, starke, glaubwürdige Zukunftsnarrative. Ein „immer so weiter“ ist nicht motivierend. Die diesbezügliche Verweigerung der Mitte-Links-Parteien haben das Feld den exklusiven und rückwärtsgewandten Zukunftsnarrativen der Rechten überlassen.

Ich denke, die beste Strategie zur Bekämpfung des Rechtspopulismus ist es, gemeinsam inklusive, spannende und sinngebende Zukunftsnarrative zu entwickeln und bekannt zu machen.

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Verschwörungstheorien - Bild von Michael Knoll auf Pixabay